Ruhe – Projekt 52


Projekt 52 – Thema: Ruhe

Nach dem Aufbruch kommt irgendwann der Moment, in dem man stehenbleibt – oder stehenbleiben muss.
Nicht, weil man angekommen ist. Sondern, weil man einfach nicht mehr kann.

Genau so hat es sich angefühlt, nachdem klar war: Ich fliege nicht mit zur Hochzeit.
Rike auch nicht. Mira und Jonas feiern ohne uns.
Die Entscheidung war getroffen, die Lösung mit dem Sozialwerk Sonnenhöhe stand – und trotzdem war mein Kopf nicht leise.
Im Gegenteil.

Ruhe kam nicht von allein.
Ich hatte gehofft, dass sie sich einstellt, wenn der Druck nachlässt.
Aber so einfach ist das nicht. Nur weil ein Problem gelöst ist, ist die Anspannung nicht weg.
Ich war erschöpft – körperlich, aber vor allem innerlich.
Und ich habe gespürt, wie sehr sich mein Körper und mein Kopf nach einer Pause sehnen.

Und dann kam Darian.

Oder besser gesagt: sein Kampf, sein Leiden, sein Abschied.

Zuerst waren es nur Schulterschmerzen. Alte Beschwerden, nichts Ungewöhnliches.
Doch innerhalb weniger Stunden kam die andere Seite dazu.
Ein Spaziergang – und plötzlich ging alles rasend schnell.
Krämpfe im Auto. Notruf. Wiederbelebung.

Kein Mensch ist darauf vorbereitet, dass so etwas einfach passiert.

Und als die wichtigsten Dokumente – die Patientenverfügung – fehlten, wurde klar:
Jetzt zählt jede Minute. Es wurde alles versucht. Alles, was medizinisch möglich war.

Darian wurde in die Klinik gebracht. Intensivstation. Beatmung.
Und dann begann dieser langsame, stille Abstieg:

Lungenentzündung. Sepsis. Septischer Schock.

Ein Körper, der sich wehrt, aber keine Kraft mehr hat.
Ein Mensch, der liegt – und doch längst woanders ist.

30 Tage zwischen Hoffen und Verzweiflung.
Jeden Tag neue Informationen, neue Komplikationen.
Jeden Tag ein bisschen mehr Abschied, ohne das Wort auszusprechen.

Darian war nicht nur der Mann von Rike.
Er war auch Gideons Vater.
Er war Familie. Er war Teil unseres Alltags. Er war verlässlich.
Ein ruhiger Mensch mit einem feinen Sinn für das, was unausgesprochen bleibt.

Sein Sterben hat uns alle getroffen. Mich auch.
Mehr, als ich anfangs dachte. Ich war nicht an seinem Bett – aber ich war dabei. In Gedanken. Im Mitempfinden. Im Aushalten.

Und als er am 10. Juli 2025 starb, war da kein Schock mehr. Nur Stille.
Und ein Gefühl von Leere, das sich nicht füllen lässt.

Er hat endlich Ruhe gefunden.
Nach all dem, was war. Nach den Schmerzen. Nach der Ungewissheit.
Und das ist – so seltsam es klingt – ein Trost.

Denn dieses Dahinvegetieren hätte kein Mensch verdient. Schon gar nicht er.
Er hat seinen Frieden verdient. Und den hat er jetzt.

Aber das bedeutet nicht, dass wir schon zur Ruhe gekommen sind.
Die Welt bleibt laut. Gedanken reißen nicht ab. Und mein Kopf – der arbeitet weiter.
Fast pausenlos.

Die acht Tage in der Tagespflege? Sie waren funktional.
Ich war dort, weil ich versorgt werden musste. Nicht, weil ich dort Erholung fand.
Es war nicht schlimm – aber eben auch kein Ort, an dem man wieder zu sich findet.

All das wurde überschattet von Darians Abschied.
Kein Moment war mehr neutral. Alles war irgendwie durchzogen von diesem Wissen, dass wir gerade jemanden verlieren.

Ich war froh, dass ich nicht mit nach Kanada geflogen bin.
Nicht nur, weil es mir selbst zu viel gewesen wäre.
Sondern auch, weil ich hier bleiben konnte.
Weil ich innerlich bei Rike war – und bei Darian.

Denn manchmal bedeutet Ruhe nicht, Abstand zu gewinnen.
Manchmal bedeutet Ruhe, einen Menschen gehen zu lassen.
Ihm beizustehen, auf deine Weise – auch wenn du nur still mitfühlst.

Gideon sprach immer von Heilung.
Nicht als Möglichkeit. Nicht als Hoffnung.
Sondern als Gewissheit.
„Gott wird Darian heilen.“ Das sagte er – immer wieder.
Und er meinte nicht irgendeine Heilung.
Er meinte: Darian wird wieder aufstehen.
Wird nach Hause kommen, lachen, reden, wieder so sein wie früher.
Gideon glaubte daran mit einer Kraft, die mich manchmal sprachlos machte.

Ich konnte da nicht mitgehen.
Nicht, weil ich nicht wollte.
Sondern, weil ich es anders gesehen habe.
Ich sah einen Körper, der kämpfte – und verlor.
Ich sah Maschinen, die Leben simulierten.
Ich sah keine Rückkehr mehr.
Für mich gab es nur zwei Wege: Pflegefall – oder Tod.
Und beides war furchtbar.

Und trotzdem…
Vielleicht hatte Gideon nicht Unrecht.
Vielleicht war die Heilung nicht das, worauf wir hier gewartet haben.
Vielleicht war die wahre Heilung etwas, das kein Arzt, kein Medikament, kein Mensch je geben kann.

Vielleicht bestand die Heilung darin, dass Darian nicht mehr kämpfen musste.
Dass sein Körper loslassen durfte.
Dass er heimgehen durfte – dorthin, wo kein Schmerz mehr ist. Kein Warten. Kein Dazwischen.

Gideon hatte Recht.
Gott hat Darian geheilt.
Aber nicht auf unsere Art.
Sondern auf seine.

Darian hat seinen Frieden.
Jetzt wünsche ich mir, dass wir irgendwann auch unseren finden.

Nicht heute. Nicht morgen. Aber vielleicht mit der Zeit.

In der Erinnerung. In der Dankbarkeit. Und in der Stille, die nach dem Sturm bleibt.


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